Sienna
„Hör doch bitte auf mich zu siezen, da komme ich mir so alt vor.“ erwiderte der Vampir lachend. Fast zeitgleich schoss mir durch die Gedanken, dass er vermutlich wirklich alt war. Mal abgesehen von seinem menschlichen Alter, musste er bei diesen ausgeprägten Fähigkeiten auch als Vampir schon einige Jahre auf dem Buckel haben. Allerdings entschied ich mich dazu diesen Gedanken für mich zu behalten. „Mal ganz davon abgesehen, dass du im Gegensatz zu dem restlichen Gesindel dort Manieren hast und Destiny sonst kaum in Gesellschaft anzutreffen ist, unterscheidet sich deine Aura von allem was ich bisher gesehen habe.“ fügte er als Antwort auf meine Frage hinzu. Ich hoffte inständig, dass dieses ständige Strinrunzeln keine Falten mit sich brachte, so oft wie ich es in diesem Gespräch schon getan hatte. „Meine Aura? So einen Mist gibt es wirklich? Ich dachte immer das wäre so ein Scharlatanding.“ Er lachte erneut und dieses Mal klang es beinahe so als ob er über mich lachen würde. Empfand er mein Unwissen etwa für amüsant? „Ist das gut, dass meine Aura sich von den anderen abhebt?“ fragte ich weiter, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich ihm alles was er sagte glauben sollte.

Sienna
Sein Gesichtsausdruck wurde wieder ernster. Folgedessen schien es wohl nicht so gut zu sein, dass meine Aura anders war, was auch immer das bedeuten sollte.. „Die Aura eines Menschen oder auch die eines Wesens zeigt was er im Moment fühlt, also ob er sich beispielsweise über etwas freut oder unter Stress steht. Sie spiegelt ebenfalls den Charakter einer Person wieder. So kann ich sehen, wenn jemand eher loyal oder hinterhältig veranlagt ist.“ versuchte er mir seine Fähigkeiten so verständlich wie möglich zu erklären. „Wie meinst du das mit dem sehen? Kannst du die Aura einfach ablesen, oder wie?“ hakte ich nach, um mir es besser bildlich vorstellen zu können. Der Vampir nickte zustimmend. „Auren werden in Farben dargestellt. Jedes Gefühl und jede Charaktereigenschaft besteht aus einer anderen Farbkombination. Es ist normal, dass eine Person von vielen Farben gleichzeitig umgeben wird und diese sich ständig wechseln, aber bei dir ist es irgendwie anders.“ sprach er weiter, ehe er eine kurze Pause machte. „Deine Aura ist unkontrollierter. Sie besteht aus viel mehr Farben, welche zu oft und zu schnell wechseln. Sie wirkt beinahe instabil. Teilweise auch wegen den ganzen negativen Aspekten.“ fügte er nachdenklich hinzu. Meine Aura schien ihn wirklich zu beschäftigen, aber was war an ihr jetzt so schlecht? Ich fühlte mich doch prima. Ob sie sich jetzt häufiger wechselte oder nicht war doch vollkommen egal. Die Laune änderte sich doch auch ständig.

Sienna
Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her. Während mir die Fragen ausgegangen waren, schien er noch immer über meine Aura zu grübeln. „Ist in letzter Zeit irgendwas komisches passiert?“ fragte er schließlich. Sofort kam mir die Sache mit der Eule in den Sinn, doch ich wusste nicht ob ich ihm das anvertrauen sollte, weswegen ich durch ein Kopfschütteln verneinte. Nach der Geschichte mit dem Werwolf war ich noch vorsichtiger gegenüber Fremden geworden. Ein zweites Mal wollte ich sowas nicht durchmachen müssen nur weil ich zu naiv war. Er sah mich eindringlich an, als ob er mir nicht glauben würde. Log ich denn so schlecht? Oder konnte er etwa auch in Träumen Auren lesen? „Aber ich hatte bevor ich eingeschlafen bin starke Kopfschmerzen. Hat das was mit dem Traum zu tun?“ fragte ich, da ich die Ursache für die starken Schmerzen in Erfahrung bringen wollte. Nachdenklich betrachtete er mich, dann schüttelte er den Kopf. „Du dürftest keine Beschwerden haben. Lediglich die starke Müdigkeit.“ Ich nickte nachdenklich. Ob die Kopfschmerzen vielleicht mit der Eule zu tun hatten? „Wie lange kann so ein Traum andauern?“ fragte ich, da ich mein Zeitgefühl verloren hatte. Ich konnte nicht annähernd abschätzen wie lange ich schon träumte und ich wollte nur ungerne von Aidan aus meinem Traum gerissen werden. Denn da musste ich dem Unbekannten rechtgeben, wenn das passierte müsste ich Aidan Rede und Antwort stehen. „Entweder bis mich meine Kräfte verlassen, die Schmerzen mich fast umbringen oder dich jemand aufweckt.“ antwortete er offen und scheinbar ehrlich. In mir stieg die Neugierde auf. Ob er ähnliche Probleme wie ich hatte? „Welche Schmerzen?“ fragte ich daher nach. „So ist das bei uns Vampiren, die eine Affinität zu Geist haben. Wir haben mächtige Fähigkeiten, die meisten von ihnen dienen dazu andere zu manipulieren. Manche haben bei der Nutzung körperliche Schmerzen, andere verlieren den Verstand an den Größenwahn. Je nach Fähigkeit lohnt es sich jedoch, weil man damit leicht Geld verdienen kann.“ erwiderte er auf meine Frage und sah mich dann wieder mit diesem durchbohrenden Blick an. „Hast du öfter solche starken Schmerzen?“ Ich zögerte einen Augenblick, nickte dann jedoch zustimmend. „Das habe ich mir schon fast gedacht.“ murmelte er nachdenklich und blieb stehen. Ich sah ihn fragend an. „Nun, ich habe die Vermutung, dass du ebenfalls eine Affinität zu Geist hast. Es ist fast unmöglich in dein Unterbewusstsein einzudringen, da dein Körper einen starken Abwehrmechanismus hat, was für Geistnutzer völlig normal ist. Deine instabile Aura deutet ebenfalls darauf hin. Sie zeigt wie labil du bist und das jederzeit deine gefährliche Seite durchschlagen kann. Ich habe dich in Frankreich genauestens beobachtet und egal wie deine Stimmung war, da war immer etwas von Hass und Tod dabei. Fast so wie bei den vielen verbitterten Vampiren, die sich ihr Geld durch Auftragsmorde verdienen, aber das schließe ich bei einem Jungvampir wie dir eher aus. Außerdem sprechen die starken Schmerzen auch dafür, aber-„ Er hielt kurz inne und sah mich abschätzend an. „- das würde bedeuten, dass deine Fähigkeiten bereits zum Vorschein gekommen sind und du mich angelogen hast.“ Ich senkte instinktiv den Blick zum Boden und fing an mit dem Fuß Muster in den Sand zu malen. „Es ist wichtig, dass du ehrlich zu mir bist. Wenn ich recht habe und du wirklich eine Affinität zu Geist hast, kann das ganz schnell für dich und andere, unter anderem auch für deinen Freund, gefährlich werden. Außerdem sind Geistnutzer sehr selten und es gibt viele mächtige Personen, die auf der Suche nach Vampiren wie dir und mir sind um anderen Schaden zuzufügen.“

Sienna
Ich knirschte mit den Zähnen. War das irgendwie so ein Vampirding mich immer über alles belehren zu wollen? Er tat es genauso wie Aidan immer. „Ich weiß gar nichts über dich, nicht mal deinen Namen. Wieso sollte ich dir trauen?“ antwortete ich in einem patzigen Ton. Ich konnte es nicht ausstehen wenn jemand versuchte mich zu bevormunden. „Woher soll ich wissen, dass du nicht auch zu diesen mächtigen Leuten gehörst, die scheinbar solche wie mich suchen?“ redete ich mich weiter in Rage. Ich wusste überhaupt nicht wem ich trauen sollte. Wie auch, wenn es scheinbar jeder auf mich abgesehen hatte? „Habe ich bisher irgendwas gesagt oder getan was dein Misstrauen erweckt hat?“ fragte der Mann ruhig. Ich gab ein leises Grummeln von mir, ehe ich verneinte. „Also, wieso solltest du mir dann nicht vertrauen? Wir sitzen schließlich im selben Boot. Du könntest viel von mir lernen.“ Ich biss mir nachdenklich auf die Unterlippe. Irgendwie hatte er ja recht .. und von irgendwem musste ich mir doch Rat holen. „Okay, sagen wir mal rein hypothetisch ich habe daran gedacht jemandem Leid zuzufügen und im selben Augenblick ist es passiert.. Wäre das etwas, was mit dieser Affinität da und den Kopfschmerzen zu tun haben könnte?“ fragte ich etwas zögerlich und sah wieder auf, um die Reaktion des Mannes zu sehen.

Sienna
Mit ungläubigen Augen musterte er mich, doch dann trat Faszination in sein Gesicht. „Das hätte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit etwas damit zu tun und diese Fähigkeit solltest du auf keinen Fall unterschätzen.. also rein hypothetisch gesehen.“ brachte er schließlich heraus. Es schien fast so als ob er sich nicht entscheiden konnte, ob er begeistert sein sollte oder nicht. „Was könnte denn passieren, wenn ich diese Fähigkeiten nicht unter Kontrolle bekomme?“ fragte ich zögerlich weiter. Er schien als einziger die Antworten auf meine Fragen zu kennen. Ich wollte die Situation nutzen und an so viele Informationen wie möglich kommen. Er hielt einen Augenblick inne bevor er auf meine Frage antwortete. „Es soll mal einen Vampir gegeben haben, der ähnliche Fähigkeiten hatte wie du sie beschrieben hast. Er hat sich den falschen Leuten angeschlossen und seine Fähigkeiten waren stark genug, dass er binnen Minuten sämtliches Leben aus mehreren Kleinstädten auslöschen konnte. Es ist zwar nur eine Legende, die weit verbreitet ist, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass sie zumindestens teilweise wahr ist. Es gibt viele Beweise dafür.. Nur hätte ich nie gedacht so einen Vampir mal persönlich kennenzulernen.“ In mir breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Was war wenn ich auch so werden würde? Wenn ich den Verstand verlor und anfing grundlos Menschen zu töten?

Sienna
Ein erneutes Schweigen trat ein. "Und wie bekomme ich das unter Kontrolle?" fragte ich nach einer Weile, den Blick zum Meer gerichtet. Es war überwältigend welche Gerüche, Geräusche und Empfindungen ich alle in dem Traum warnehmen konnte. Es wirkte so real. "Na so wie ein Fußballer auch. Wenn er sich verbessern möchte, spielt er Fußball. Bei dir ist es genau so. Du musst versuchen deine Fähigkeiten auf Abruf nutzen zu können, aber erwarte für den Anfang nicht zu viel. Es erfordert viel Zeit und Geduld so etwas zu beherrschen." antwortete er und sah ebenfalls aufs Meer hinaus. Das hieß also dass ich unschuldige Tiere foltern sollte damit es mir nicht ausversehen bei Menschen oder gar Aidan passierte? Bei dem Gedanken wurde mir übel. Wieso waren meine Fähigkeiten auch schon so früh zum Vorschein gekommen und nicht erst in ein paar hundert Jahren? "Geht das nicht auch anders? Vielleicht ohne so viel Gewalt und Leid?" fragte ich daher nach. Doch bevor er antworten konnte, wurde alles verschwommen. Seine Stimme klang verwaschen, so dass ich kein Wort davon verstehen konnte. Was sollte das? Ich war noch nicht fertig mit meinen Fragen! So schnell wie ich vorhin eingeschlafen war, wachte ich auch wieder auf. Es dauerte einige Sekunden bis ich realisierte dass ich nicht alleine im Raum war. "Du hast ja keine Ahnung wie froh ich bin dich jetzt zu sehen." entfuhr es mir, als ich Aidan stürmisch um den Hals fiel und ihn an mich drückte.

Sienna
Ich bemerkte wie wachsam und angespannt Aidan war, was ich an seiner Stelle wohl auch gewesen wäre. Auf die Schnelle fiel mir keine glaubwürdige Ausrede ein, weswegen ich erst gar nicht versuchte mich in Lügen zu verstricken, sondern beschloss einfach alles abzustreiten. Irgendwann würde er schon mit nachfragen aufhören. "Nichts, alles bestens?" erwiderte ich in einem unschuldigen Ton, wobei meine Aussage eher wie eine Frage klang. Ich löste mich zögerlich aus der Umarmung und betrachtete ihn nun etwas genauer. "Du hast deinen Rasierer wohl wieder gefunden." bemerkte ich schmunzelnd, während ich ihm mit der Hand über die Wange fuhr. Auch seine Haare waren wieder kürzer geschnitten, so wie am Anfang, als ich ihn kennengelernt hatte. "Steht dir."

Sienna
Er tat es schon wieder. Wenn ich ihm bei wichtigen Themen widersprach oder wie jetzt etwas verheimlichte, zeigte er mir die kalte Schulter, so dass ich Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen bekam. Zu meinem Leidtragen war Aidan darin ziemlich gut, weswegen ich bisher immer nach einer gewissen Zeit nachgegeben und ihm doch alles erzählt hatte. Auch jetzt fühlte ich mich wirklich mies. Es war nicht fair ihn so im Dunklen tappen zu lassen nach dem er in der letzten Zeit so ehrlich zu mir gewesen war. "Aidan, es tut mir leid, wirklich." gab ich leise von mir. Dabei konnte ich ihm jedoch nicht mal in die Augen sehen. Seine kalte Stimme reichte schon aus um mir gedanklich vorzustellen wie enttäuscht er mich gerade ansehen musste. "Aber ich kann es dir nicht sagen. Es geht nicht.. zumindest jetzt noch nicht." beharrte ich weiter auf meinen Standpunkt. Ich musste selbst erst herausfinden ob der fremde Vampir mit seiner Vermutung richtig lag. Vielleicht hatten wir beide uns auch einfach geirrt. Nicht nur von meinen Fähigkeiten, sondern auch von dem anderen Vampir konnte ich ihm nichts erzählen. Aidan würde nur noch mehr Fragen stellen und ich konnte mir gut vorstellen, dass danach auch noch eine Standpauke folgen würde, weil ich ja zu gutgläubig war und der Vampir mir ja sonst was antuen wollen würde. Aidan hatte seine Erfahrungen gemacht und wurde aus diesen misstrauisch gegenüber jedem. Ich war leider einer von der Sorte, die es selber testen und auf der Schnauze landen mussten. Außerdem hatte ich Angst vor seiner Reaktion. Was war wenn er mit totalem Unverständnis reagierte?