Ethan
Als ich für einige Wochen in Oslo untergetaucht war, war ich durch Zufall einem alten Freund über den Weg gelaufen. Er hatte mir angeboten, bei ihm einzuziehen solange sein Mitbewohner geschäftlich verreist war. Es war eine nette Abwechslung gewesen, ein normales Leben ohne Vampire und andere Jäger zu führen. Allerdings war von Anfang an klar gewesen, dass das nur eine Übergangslösung war. Daher war ich vor knapp 3 Wochen zurück nach Cork gekehrt, um das Übel, das Aidan in Italien hinterlassen hatte, aufzuklären. Zwar hatte ich mich dabei nicht ganz an die Wahrheit gehalten, aber anders wäre es nicht möglich gewesen, meinen Ruf halbwegs wieder herzustellen. Zwar misstrauten mir noch ein paar Jäger, aber das würde sich mit der Zeit legen. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, meinem Vater alles über Siennas Verschwinden zu erzählen. Es war nicht einfach, dabei zuzusehen wie verzweifelt er nach ihr suchte. Allerdings war er schon wegen der Sache in Italien nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen, weswegen ich mich dagegen entschieden hatte und mir sogar eine eigene Wohnung, etwa eine halbe Stunde von Cork entfernt, zugelegt hatte. Genau in dieser Wohnung lief ich gerade unruhig umher. Sienna ignorierte meine Anrufe schon seit einer Weile und langsam machte ich mir Sorgen, dass etwas passiert war. Ob Mira etwas von ihr gehört hatte? Schließlich verband die beiden eine enge Freundschaft. Ich ließ mich aufs Sofa fallen, wählte ihre Nummer und wartete ungeduldig darauf, dass Mira meinen Anruf entgegen nahm. Ein schlechtes Gewissen hatte ich ja schon, weil ich mich meist nur wegen Sienna bei ihr meldete.

Sienna
Wieder in meiner Unterkunft angekommen, schmiss ich die vor Wasser triefende Jacke auf den Boden. Dieser war bereits stellenweise von den Regentropfen, die durch das undichte Dach eingedrungen waren, nass. Ich ging ins Badezimmer und breitete auf der Ablage über dem Waschbecken alles aus, was ich für die Typveränderung brauchte. Ich packte das Haarfärbemittel aus, überflog kurz den Beipackzettel und mischte nach Anleitung alles zusammen. "Wird schon schief gehen." murmelte ich, ehe ich anfing die Farbe aufzutragen. Ich hatte mir noch nie die Haare gefärbt. Warum auch? Ich liebte meine Haare so wie sie waren und hätte sie auch nie gefärbt, wenn es nicht nötig gewesen wäre. So wie ich meinen Vater kannte, hatte er sich an alle möglichen Anlaufstellen gewendet, um möglichst viele Menschen und leider auch Jäger auf mein Verschwinden aufmerksam zu machen. So viele junge Frauen, die lange, dunkle, lockige Haare und eisblaue Augen hatten gab es wohl nicht. Auch wenn ich mittlerweile braune Kontaktlinsen trug, um die unkontrollierbare Verfärbung meiner Augenfarbe zu vertuschen, würde diese kleine Veränderung nicht ausreichen, um unerkannt zu bleiben. Nach dem ich die Farbe gleichmäßig in meinen Haaren verteilt hatte, setzte ich mich auf den Rand der Badewanne und wartete ab. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, obwohl es in Wirklichkeit nur 20 Minuten waren, die ich stillsitzend dort verbracht hatte. Nach dem ich die Farbe ausgewaschen hatte, betrachtete ich mich skeptisch in dem Spiegel, der schief über dem Waschbecken hing. Meine Haare sahen noch recht dunkel aus, aber ich hoffte, dass es daran lag, dass sie noch nass waren. Als ich die Haarschneideschere in der Hand hielt, zögerte ich einen Moment. "Was solls, sie wachsen ja wieder." redete ich mir selbst ein, ehe ich zu schneiden anfing und eine Strähne nach der anderen ins Waschbecken fiel. Anschließend trug ich noch etwas Make Up auf, so dass mein Gesicht schmaler wirkte, die hohen Wangenknochen besser zur Geltung kamen und auch meine Lippen voller wirkten. Als ich mit allem fertig war, musterte ich mein Spiegelbild eingehend. Die schokobraunen Haare, die nun statt bis zur Taille nur noch knapp über die Schultern reichten, sahen gar nicht so übel aus, nur anders, ungewohnt eben. Ich würde mich noch daran gewöhnen, genauso wie ich mich an meine braunen Augen gewöhnt hatte. Ich räumte das Badezimmer im Schnelldurchgang auf und verstaute die restlichen Kleidungsstücke, die noch irgendwo in der Wohnung herumlagen, in meiner Tasche. Um sicherzugehen, dass ich nichts übersehen hatte, machte ich nochmal einen Rundgang, bevor ich das alte Gebäude verließ und mich in einem zügigen Schritttempo zu dem Ort begab, an dem mein Auto stand. Ich zog den Autoschlüssel aus der Hosentasche, öffnete den Wagen und setzte mich hinters Steuer, ehe ich die Tasche auf den Beifahrersitz ablegte und den Motor anließ. Ich würde etwa 2 Tage für die Reise nach Irland brauchen, je nach dem wie schnell ich fuhr und wie viele Pausen ich zum Jagen und Tanken einlegte.

Ethan
Ich gab ein irritiertes "Hey?" von mir, als Mira mich als Chrissi betitelte. "Wer oder was ist Chrissi?" hakte ich automatisch nach, ehe mir auffiel, dass mich das eigentlich überhaupt nichts anging. Zwar hatten Mira und ich uns öfters unterhalten, wenn sie bei uns Zuhause gewesen war, doch nie über private Themen. "Sorry, alte Gewohnheit." murmelte ich entschuldigend und stand vom Sofa auf. Früher hatte ich meine Schwester immer auf dieselbe Art und Weise ausgefragt. "Hör mal.. Ich habe seit Wochen nichts mehr von Sienna gehört und wollte fragen, ob sie sich bei dir gemeldet hat?" fragte ich, während ich erneut im Wohnzimmer auf und ab lief.

Ethan
Ein Kumpel? War Mira neuerdings kontaktfreudig geworden? Erneut erinnerte ich mich daran, dass es mich nichts anging und verwarf den Gedanken daher gleich wieder. "Wirklich gar nichts?" hakte ich skeptisch nach. Dass meine Schwester mich nicht immer auf dem neusten Stand halten wollte, war ja nachvollziehbar, aber dass sie sogar den Kontakt zu ihrer besten Freundin abbrach war kein gutes Zeichen. Jetzt blieb mir wohl oder übel nur noch eins übrig: Aidan anrufen. Mir entfuhr ein Seufzer. "Trotzdem danke. Ich werde der Sache nachgehen." meinte ich und fuhr mir durch die Haare. "Ich bin sicher, dass sie einen triftigen Grund hat, warum sie sich nicht bei dir meldet. Schließlich bist du ihre beste Freundin." sagte ich, ehe ich mich verabschiedete und auflegte. Ich würde Aidan gleich nach meiner Verabredung kontaktieren. Doch jetzt musste ich mich erstmal auf den Weg nach Dublin machen, um Jennifer dort zu treffen. Während der Autofahrt hatte ich alle möglichen Szenarien durchgespielt warum Sienna sich nicht meldete. Allerdings hätte Aidan sich gemeldet, wenn ihr etwas zugestoßen wäre. Außer es hatte beide erwischt. Doch dafür schätze ich Aidan als zu erfahren ein. Ich parkte den Wagen zwei Straßen vom Treffpunkt entfernt und sah kurz auf meine Armbanduhr. Ich war früher als geplant eingetroffen, weswegen ich in einem gemütlichen Schritttempo das kleine Café ansteuerte.

Ethan
Noch immer tief in Gedanken versunken, stieß ich die Tür auf und ließ meinen Blick flüchtig durch den Raum schweifen, um zu schauen, ob Jennifer schon hier war. Nach dem ich festgestellt hatte, dass dies nicht der Fall war, steurte ich auf einen kleinen Tisch am anderen Ende des Cafés zu. Beim durchqueren des Raumes stieg mir ein bekannter Geruch in die Nase, der mich abrupt zum Stehen brachte. Ich senkte den Kopf leicht und rieb mir mit der Hand den Nacken, ehe ich kehrt machte. Ich zog einen Stuhl vom Nachbartisch ran und setzte mich, ohne zu fragen, ob meine Anwesenheit erwünscht war, zu Aidan und dem unbekannten Mann an den Tisch. "So schnell sieht man sich wieder." meinte ich, während ich mich entspannt zurück lehnte, so als ob ich mit alten Freunden plaudern würde. Ich war überrascht ihn ausgerechnet in Irland anzutreffen, wo doch die Gegend für Sienna alles andere als sicher war. So wie er und sein Begleiter gekleidet waren, waren sie wohl geschäftlich bedingt hier. Doch wo war meine Schwester? "Wo hast du Sienna gelassen?" wollte ich wissen, weil er sie wohlkaum mit hier her genommen hatte. Zumindest hoffte ich das für ihn.

Ethan
Anhand seiner angespannten Reaktion, als ich Siennas Namen fallen ließ, wusste ich schon, dass irgendwas passiert war. Ich hoffte inständig, dass es meiner kleinen Schwester gut ging. "Nein, weder mich noch Mira oder sonst irgendwen." antwortete ich trocken. Als er dann weitersprach, musste ich schwer schlucken. "Nur damit wir uns richtig verstehen." sagte ich und lehnte mich nach vorne, um meine Ellenbogen auf den Tisch zu stützen. "Du willst mir also sagen, dass sie ohne ersichtlichen Grund abgehauen ist und jetzt irgendwo alleine unterwegs ist?" wiederholte ich, um sicherzugehen, dass ich Aidan nicht falsch verstanden hatte. Allein bei der Vorstellung drehte es mir den Magen um. "Das übertrifft wohl alle ihre unüberlegten Entscheidungen." Und davon gab es so einige. Wut stieg in mir auf, jedoch war diese eher weniger gegen Aidan gerichtet. Ich wusste, wie Sienna sein konnte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Doch was sollte ich tun? Ich wusste ja nicht mal wo ich anfangen sollte nach ihr zu suchen. "Bist du sicher, dass sie nicht erwähnt hat wo sie hin will?" fragte ich nach, obwohl man Aidan deutlich ansehen konnte, dass Sienna nicht gerade zu seinen Lieblingsgesprächsthemen zählte.

Ethan
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Sienna ohne wichtigen Grund das Risiko einging, in ihre Heimat zurückzukehren und in Schwierigkeiten zu geraten. Doch warum sollte Aidan mir etwas verschweigen? Also abgesehen davon, dass wir uns noch nie hatten ausstehen können, weil er nun mal ein Vampir und ich ein Jäger war. "Verstehe." gab ich nachdenklich von mir. So ungern ich Aidan zustimmte, in dieser Situation blieb mir nichts anderes übrig als zu warten bis Sienna auftauchte. "Schade aber auch, wo es mich doch so brennend interessiert, welchen Geschäften du hier nachgehst." erwiderte ich in einem ironischen Unterton. Es war offensichtlich warum Aidan hier war. Die Frage war nur, wer der Blondschopf war. Als wenige Sekunden später das Türglöckchen ertönte und sich der Duft eines süßen Parfüms im Raum ausbreitete, kam ich Aidans Bitte nach und erhob mich. "Ich hatte ohnehin nicht vor, lange zu bleiben. Du weißt ja, die Pflicht ruft." entgegnete ich, nickte dem Fremden zum Abschied kurz zu und trat dann meinen Rückzug an. Jennifer kam mir ein paar Schritte entgegen und fragte, so wunderfitzig wie sie war, "Wer ist das?", als sie einen misstrauischen Blick über meine Schulter warf, um einen kurzen Blick auf Aidan und seinen Begleiter zu erhaschen. "Hallo, ich freue mich auch dich zu sehen." entgegnete ich grinsend, ehe ich die Hände auf ihre Schultern legte, sie umdrehte und sanft in Richtung Ausgang schob. Dass sie mich mit Aidan gesehen hatte und nun auch noch Fragen stellte, hatte mir gerade noch gefehlt. "Es gibt eine Planänderung."

Ethan
"Was soll das heißen, es gibt eine Planänderung?" entgegnete die Blondine, als ich sie in Richtung Tür drängte. "Wir wurden hier her zitiert, um einem Hinweis nachzugehen." protestierte sie weiter und fuhr herum, sobald wir aus der Tür waren. "Ich bin dem Hinweis bereits nachgegangen und er hat sich als falsch herausgestellt." entgegnete ich, um Jennifer schnellstmöglich von hier wegzubekommen. Auch wenn ich keine Sympathie für Aidan empfand, wollte ich ihm Jennifer nicht zu muten. Es reichte schon, dass ich sie an der Backe hatte. Offiziell war sie mir als neue Partnerin zugeteilt worden, allerdings vermutete ich eher, dass sie als Informantin für die Chefetage fungierte. Wenn ich mir in ihrer Gegenwart einen Fehltritt leistete, war ich wohl entgültig fällig. "Hör zu, es ist mir vollkommen egal, was damals in Rom passiert ist und ich will es auch gar nicht wissen, aber halt mich aus deinen Problemen raus. Ich würde meinen Job und meinen guten Ruf gerne behalten." zischte die Blondine leise, als ein weiterer Gast das Café verließ. Ich lachte leise. "Welcher gute Ruf?" entgegnete ich sarkastisch und wandte mich zum gehen. "Willst du mich jetzt hier stehen lassen oder was?" rief sie mir verdutzt hinterher. "Ich werde anderen Hinweisen nachgehen. Was du machst, ist mir egal." erwiderte ich schultetzuckend und lief zurück zu meinem Auto.

Sienna
Normalerweise empfand ich das Autofahren als entspannend, aber umso mehr Kilometer ich hinter mich legte, desto angespannter wurde ich wegen dem, was mich in Irland erwarten würde. Ich war kurz vor den Grenzen Österreichs, als mein Smartphone klingelte. "Hey, wo steckst du?" erkundigte sich die tiefe Männerstimme. "Mitten im Berufsverkehr." entgegnete ich entnervt, während ich ungeduldig mit den Fingernägeln aufs Lenkrad trommelte. Am anderen Ende der Leitung war ein leises Lachen zu hören. "Meldest du dich, wenn du in Deutschland ankommst?" Ich gab ein zustimmendes "Mhm." von mir, während ich einen kurzen Blick auf die Uhr warf. "Wo sollen wir uns treffen?" fragte ich nach, weil wir diese Frage noch nicht geklärt hatten. "Wie wäre es mit Köln?" kam prompt der Vorschlag. "Köln liegt aber nicht auf dem schnellsten Weg." antwortete ich nachdenklich. "Hast du eine bessere Idee?" hakte er nach. Ich verdrehte die Augen und schwieg. "Nein? Also, dann bleibts bei Köln." antwortete er. Ich hätte schwören können, dass man ein Grinsen aus seiner Stimme raushören konnte. "Ich muss jetzt auflegen, wir sehen uns." sagte ich schließlich, um mich wieder voll auf den Verkehr und meine Gedanken konzentrieren zu können. Bevor er noch etwas einwenden konnte, legte ich auf. Der Verkehr hatte sich mittlerweile etwas aufgelöst, so dass ich wieder bis zur Geschwindigkeitsbegrenzung beschleunigen konnte. Eins war klar, wenn ich die 2 Tage im Auto halbwegs gut überstanden hatte, musste ich mir erstmal die Füße vertreten.

Ethan
"Ist das dein ernst?" knurrte Jennifer, während sie mit ihren kurzen Beinen versuchte, aufzuholen und mit mir Schritt zu halten. Ich gab keine Antwort, sondern lief stur geradeaus weiter. "Weißt du was ich mich frage?" redete die junge Frau einfach weiter. "Nein." unterbrach ich sie genervt. "Ich frage mich, wie aus einem angesehenen Jäger binnen weniger Wochen ein Verräter wird, dem man Gerüchten zu Folge nicht trauen kann. Was ist damals in Rom passiert, Ethan? Und was hat das Verschwinden deiner Schwester damit zu tun?" Ich blieb abrupt stehen, so dass Jennifer fast gegen mich gestoßen wäre. Verwundert blickte sie zu mir auf. "Wir werden jetzt gemeinsam zum Campus fahren und dort einen Jäger treffen, der bei einem aktuellen Fall Hilfe braucht. Wenn du mir allerdings noch eine Frage auf dem Weg dorthin stellst, fahr ich rechts ran und schmeiß dich raus, verstanden?" Die Blondine knirschte mit den Zähnen, nickte dann jedoch zustimmend. "Gut, dass wir uns einig sein." sagte ich dann grinsend und öffnete die Fahrertür. Das würde ein sehr langer Tag werden.